Was bedeutet "ausdriften" im Kontext der Evolutionsbiologie?

2 Antworten

Neben der natürlichen Selektion, bei der die Auslese von Genvarianten (Allelen) nicht zufällig erfolgt, sondern vom Anpassungswert abhängt, spielt auch der Zufall in Form der Gendrift eine bedeutende Rolle für die Evolution. Die extremsten Formen der Gendrift begegnen uns beim genetischen Flaschenhals und beim Gründereffekt.

Von einem genetischen Flaschenhals spricht man, wenn eine Population durch ein äußeres Ereignis auf wenige Tiere dezimiert wird, etwa durch eine Überflutung, ein Erdbeben, einen Vulkanausbruch oder eine Krankheit. Der Genpool der nunmehr nur noch sehr kleinen Population ist verglichen mit dem Genpool der ursprünglichen Population bedeutend kleiner und weniger vielfältig und betroffen vom Verschwinden können auch solche Allele sein, die eigentlich einen Überlebensvorteil böten. Das bleibt auch noch lange nach dem genetischen Flaschenhalsereignis der Fall, wenn die Population wieder anwächst. Die Individuen von Arten, die durch ein genetisches Flaschenhalsereignis gingen, sind daher einander genetisch sehr ähnlich. Ein Beispiel für eine Art, die durch einen genetischen Flaschenhals ging, ist der Gepard (Acinonyx jubatus). Die Individuen sind einander genetisch so ähnlich, dass sie untereinander sogar gewebeverträglich sind. Und auch die hohe genetische Uniformität unserer eigenen Spezies von 99.9 % ist durch ein genetisches Flaschenhalserrignis erklärbar, dessen Ursache möglicherweise der Ausbruch des Toba-Vulkans vor rund 74 000 Jahren gewesen sein könnte.

Der Gründereffekt tritt auf, wenn einige wenige Individuen einer Population ein neues Areal besiedelt, etwa dann, wenn sie von einem Sturm auf eine bislang von dieser Art nicht bewohnte Insel verdriftet werden. In neuerer Zeit spielt der Gründereffekt auch bei der Einschleppung gebietsfremder Arten durch den Menschen eine Rolle, etwa die Einfuhr der Aga-Kröte nach Australien. Der Genpool der Gründerpopulation ist verglichen mit der Quellpopulation, aus der die Gründerindividuen ursprünglich stammen, ähnlich wie beim genetischen Flaschenhals viel kleiner. Und weil die Gründerpopulation in der Regel sehr klein ist und die Anzahl der möglichen Fortpflanzungspartner begrenzt, können unter solchen Umständen dann auch Allele im Genpool fixiert werden, die eigentlich nachteilig sind.

Gründereffekt und genetischer Flaschenhals sind aber nur Extremfälle. Von genetischer Drift ist aber jede Population betroffen, weil die effektive Populationsgröße (effective population size, Ne) stets kleiner als die totale Populationsgröße (census population size, Nc) ist. Die effektive Populationsgröße ist die Größe, die eine ideale Population (d. h. eine sich im Hardy-Weinberg-Gleichgewicht befindliche) Population hätte, deren Verlust an genetischer Variabilität genauso groß ist wie der Verlust an genetischer Variabilität in der beobachteten Population. Genetische Drift führt also kontinuierlich zu einem Verlust der genetischen Variabilität. Wenn ein Allel durch Gendrift aus der Population verschwindet, wird das auch als ausdriften bezeichnet.

Ein Grund dafür ist etwa ein unausgewogenes Geschlechterverhältnis. Eine Population wird natürlich nie aus exakt so vielen Weibchen wie Männchen bestehen, sodass einige Individuen nicht zur Fortpflanzung kommen und ihre Allele nicht weitergeben können. Und auch demographische Schwankungen können zur Gendrift führen. Eine weitere Ursache ist eine unterschiedlich hohe Anzahl an Nachkommen. Bei einigen Pflanzenarten produzieren einige Individuen nur eine handvoll Samen, während andere hunderte oder gar tausende produzieren Damit ist gemeint, dass in manchen Jahren besonders viele Nachkommen geboren werden, in anderen dafür nur sehr wenige.

Die genetische Vielfalt einer Population müsste wegen der genetischen Drift ständig abnehmen. Warum tut sie es aber nicht? Weil zwischen der genetischen Drift (die die genetische Variabilität verringert) und anderen Faktoren (die die genetische Variabilität erhöhen) ein Gleichgewicht besteht. Ein wichtiger Faktor, der zur Erhöhung der genetischen Variabilität führt, ist die Entstehung neuer Allele durch Mutation. Darüber hinaus erhöhen auch aus anderen Populationen einwandernde Individuen die genetische Variabilität. Mutation und Einwanderung von außen zusammen gleichen die Verluste durch die Gendrift also wieder aus und genau das ist Mutation-Drift-Balance gemeint.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Biologiestudium, Universität Leipzig

EmiliaEm 
Fragesteller
 21.07.2023, 10:28

Danke! Sehr gut erklärt :)

"Die effektive Populationsgröße ist die Größe, die eine ideale Population (d. h. eine sich im Hardy-Weinberg-Gleichgewicht befindliche) Population hätte, deren Verlust an genetischer Variabilität genauso groß ist wie der Verlust an genetischer Variabilität in der beobachteten Population" Wenn du magst, wäre es hilfreich, wenn du mir den Teil nochmal genauer erklärst. Ich verstehe z.B. nicht, was genau du mit "beobachteten Population" meinst :)

0
Darwinist  21.07.2023, 12:57
@EmiliaEm

Gern erkläre ich dir das. :)

Die beobachtete Population ist die reale Population, also diejenige, die du in der Natur untersuchst.

Die Zensus-Population (Nc) ist die totale Populationsgröße dieser Population. Die kann man z. B. mit Hilfe von Fotofallen ermitteln oder durch sog. capture-mark-recapture-Verfahren. Was das ist und wie das geht, braucht uns nicht zu interessieren. Nehmen wir mal an, wir haben 100 Individuen gezählt.

Die effektive Populationsgröße (Ne) ist nun die Populationsgröße, die davon wirklich am Fortpflanzungsgeschehen teilnimmt. Sehr alte, nicht mehr fortpflanzungsfähige und noch nicht erwachsene Individuen beispielsweise tragen ja zur Fortpflanzungsrate der Population, d. h. zur Erhaltung der Population, (noch) nichts (mehr) bei. Und auch ein ungleiches Geschlechterverhältnis wirkt sich auf die Ne aus. Deshalb ist Ne stets kleiner als Nc.

Welche Auswirkungen das Geschlechterverhältnis auf Ne hat, können wir uns einmal beispielhaft anschauen. Sie lässt sich berechnen nach der Formel:

Ne = 4 × Nf × Nm ÷ (Nf + Nm)

Wobei Nf für die Anzahl an Weibchen und Nm für die Anzahl an Männchen steht.

Nehmen wir an, unsere Population wäre ideal, es gäbe also ein völlig ausgewogenes Geschlechterverhältnis (50 Weibchen und 50 Männchen) und natürlich sind sie alle fortpflanzungsfähig. Dann gilt:

Ne = 4 × 50 × 50 ÷ 100 = 100. In diesem Fall gälte also Ne = Nc.

Nehmen wir jetzt an, dass wir für unsere beobachtete Population aber ein reales Geschlechterverhältnis von 70 Weibchen und 30 Männchen ermittelt haben. Dann gilt:

Ne = 4 × 70 × 30 ÷ 100 = 84.

Das heißt, unsere Population von 100 Tieren verliert so viel genetische Diversität durch genetische Drift, als bestünde sie aus nur 84 Individuen.

In der Praxis wird Ne heute meist durch populationsgenetische Studien ermittelt, also mit Hilfe von genetischen Markern wie etwa Mikrosatelliten oder SNPs, indem man für die einzelnen Allele ihre Häufigkeit (Allelfrequenz) bestimmt und die beobachteten Allelfrequenzen jeweils mit den Allelfrequenzen vergleicht, die man erwarten würde, wenn sich die Population vollständig im Hardy-Weinberg-Gleichgewicht befände, also eine ideale Population wäre. Diese Methode wird auch linkage disequlibrium (LD) genannt, zu Deutsch Kopplungsungleichgewicht. Man schaut also, ob ein Allel häufiger (oder seltener) an einen Locus gekoppelt ist als das für eine ideale Population zu erwarten wäre.

1
Darwinist  21.07.2023, 13:01
@Darwinist

Nachtrag: Bedeutung hat die effektive Populationsgröße z. B. für die Naturschutzbiologie, da Populationen, die überdurchschnittlich viel genetische Diversität verlieren, ein größeres Aussterberisiko haben. Populationsgenetische Studien können dann helfen, um geeignete Maßnahmen zur Rettung zu ergreifen, ob man z. B. durch Aussetzen von Individuen aus einer anderen Population neue Allele in die Population bringt (genetic rescuing). So geschehen etwa beim Florida-Panther. Oder ob man durch Schaffung von Wanderkorridoren einen besseren genetischen Austausch zwischen Populationen ermöglicht.

1

Hallo,

Da geht es um Gendrift:

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Gendrift

Damit ist gemeint, dass sich mutierte Allele, wenn sie sich weder positiv noch negativ auswirken, in einzelnen Populationen rein zufällig komplett ausbreiten oder komplett verschwinden können. Ich denke mit "ausdriften" meinen sie einfach den Lauf des Prozesses der Gendrift.


EmiliaEm 
Fragesteller
 21.07.2023, 10:09

Danke für deine Antwort! :) Also würdest du unter "ausdriften" "kompett verschwinden" verstehen?

0
Pomophilus  21.07.2023, 14:07
@EmiliaEm

Zumindest das komplette Verschwinden 3in3s Allelsaus einer Population aufgrund von Gendrift ist damit gemeint- siehe die ausführliche Antwort von Darwinist!

1