Ist ein bescheidener Mensch weniger bescheiden, wenn er sich selbst als bescheiden einschätzt?

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Grundsätzlich ist ein bescheidener Mensch immer noch bescheiden, wenn er sagt, er sei bescheiden. Denn Bescheidenheit bedeutet ja nicht, dass du gar keine guten Eigenschaften an dir selbst sehen sollst, obwohl sie schon in die Richtung geht.

Schau dir mal im Duden und bei Wiki die Definitionen von Bescheidenheit an. Demnach ist ein bescheidener Mensch jemand, der zurückhaltend, anspruchslos, genügsam ist, der nicht prahlt mit seinen Leistungen oder seinem Besitz. Wenn du von einer Auszeichnung erzählst, die du erhalten hast, ist das ja nicht geprahlt, sondern du hast deine Freude mitgeteilt.

Ich bezweifle, dass der von dir beschriebene Mensch tatsächlich bescheiden ist. Wie sollte ein bescheidener Mensch zu einer Auszeichnung kommen? Er ist ja genügsam, hält sich zurück, nimmt an einem solchen Wettbewerb gar nicht teil. Jemand, der seine guten Seiten herunterspielt, hätte eher die sogenannte "falsche Bescheidenheit".

Bescheidenheit wurde von der katholischen Kirche als Tugend bezeichnet, als erstrebenswert und nur positiv. Das ist natürlich fatal, gerade für einen Menschen in jungen Jahren, weil es sehr hinderlich ist, seine eigenen Fähigkeiten einzuschätzen. Wenn ich vor lauter Bescheidenheit, alles, das ich gut kann, alle meine Stärken und Talente verschweige und klein mache, wie will ich dann meine Begabungen nutzen? Ich muss sie doch zuerst erkennen und danach streben, sie zu fördern und zu entwickeln.

Bescheidenheit steht älteren Menschen sicher gut, verbunden mit Gelassenheit und Wohlwollen.Für junge Menschen ist sie eine absolute Bremse in der Entwicklung von Selbstkenntnis und Selbstvertrauen... Man muss ja nicht gleich ins andere Extrem verfallen.

Noch was zum Schmunzeln...

http://www.wilhelm-busch-seiten.de/gedichte/kritik04.html


konver  19.06.2013, 21:35

Gier und Maßlosigkeit zur Bescheidenheit sublimieren zu können, muss gelernt werden. Das Problem ist nicht der Druck falsch applizierter Bescheidenheit, sondern fehlende Vorbilder.

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gamine  20.06.2013, 11:13
@konver

Vielen Dank für den Stern!

@konver - Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Einteilung der menschlichen Eigenschaften in gute und schlechte, in erstrebenswerte und zu unterdrückende bringt die Zerstörung unseres Selbstbewusstseins mit sich, weil das Ziel, nur sogenannte gute Eigenschaften zu haben, nicht erreichbar ist.

Die Frage zeigt ja sehr deutlich, dass Bescheidenheit bis zur Selbstverleugnung führen kann, bis man an sich selbst kein gutes Haar mehr lässt. Auch Gier und Masslosigkeit haben ihre guten Seiten. Je mehr ich eine Eigenschaft zu sublimieren, zu unterdrücken, zu negieren versuche, desto mehr wird sie mit Gewalt hervorbrechen.

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Bescheidenheit äußert sich in geistiger und materieller Unabhängigkeit.

Die Abnormität der übertriebenen Bescheidenheit ist die Selbstverleugnung, die Selbstpreisgabe und auch jede Selbstaufopferung. Echte Hilfe wird nicht als Aufopferung empfunden. Man erkennt in unechter Bescheidenheit heuchlerische, oft sogar erpresserische Unehrlichkeit („Ich tue alles nur deinetwegen“).

Spielt jemand seine Leistungen herunter so verleugnet er sich selbst und, entspricht nicht dem bescheidenen Charakter.


verreisterNutzer  17.06.2013, 22:44

In den Grundzügen bin ich einer Meinung mit dir. Allerdings ist es wie so oft theoretisch viel einfacher als praktisch:

"Spielt jemand seine Leistungen herunter so verleugnet er sich selbst und entspricht nicht dem bescheidenen Charakter."

Nehmen wir an, jemand gewinnt den ersten Preis in einem Wettbewerb. Danach gefragt wird man meistens nicht, weil die Leute gar nichts von einer Teilnahme wussten, beiläufig einfliessen lassen wirkt heuchlerisch und direkt ansprechen würde ich auch nicht unbedingt als bescheiden bezeichnen. Was wäre da deiner Meinung nach das bescheidene Verhalten?

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vierfarbeimer  17.06.2013, 22:57
@verreisterNutzer

Ich versteh jetzt nicht ganz was du meinst? Meinst du wie man sich verhalten soll, wenn man z.B. eine Waschmaschine in einem Wettbewerb gewonnen hat?

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vierfarbeimer  17.06.2013, 23:41
@vierfarbeimer

Gerade ist der Groschen gefallen!

Also wenn jemand den ersten Preis in einem Wettbewerb gewönne und selbst mit diesem ersten Preis noch unzufrieden wäre, dann wäre das sehr unbescheiden.

Andererseits darf man sich darüber natürlich freuen und die Freude auch anderen mitteilen. Ein solches Verhalten wäre kein Zeichen von Unbescheidenheit.

Es könnte aber auch sein, dass einem der Gewinn missgönnt würde. Das wäre dann Unbescheidenheit seitens der anderen (Missgünstigen).

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verreisterNutzer  18.06.2013, 07:15
@vierfarbeimer

Nein, wenn man z.B. einen Musikwettbewerb, einen Literaturwettbewerb, einen Wissenschaftswettbewerb oder was auch immer gewonnen hat.

Vierfarbeimer stimme ich zu :) Allerdings geht es ja nicht darum, dass man sich nicht über den Preis freuen würde, sondern darum, dass es einem peinlich vorkommen würde/nicht so wichtig wäre, diese Freude zu äussern.

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vierfarbeimer  18.06.2013, 11:06
@verreisterNutzer

Da muss man schon differenzieren ob es jemandem nicht so wichtig ist die Freude zu äussern, weil er beispielsweise selbst den Preis als nicht so bedeutend oder wichtig erachtet, oder ihn sogar als unangemessen ablehnt, oder ob es jemanden peinlich ist die Freude zu äussern, weil er befürchtet in seiner Freude könne irgendein unangemessenes Gefühl wie z.B. Selbstbewunderung zum Ausdruck kommen.

Ist es jemanden peinlich die Freude zu äussern, weil er befürchtet in seiner Freude könne seine Selbstbewunderung zum Ausdruck kommen, so wäre dies eine unangemessene Selbstüberhöhung und als unbescheiden wahrnehmbar.

Kommt in der Freude über den Erfolg jedoch die Freude zum Ausdruck, dass es sich gelohnt hat für den Erfolg trainiert, gelernt und gearbeitet zu haben, so ist die Freude angemessen, Zeugnis von Selbstvertrauen, innerer Freiheit und Ausdruck von Bescheidenheit.

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verreisterNutzer  18.06.2013, 12:33
@vierfarbeimer

Ich bin von Zweiterem ausgegangen; aber ist Stolz (oder das, was du als Selbstbewunderung definierst) wirklich grundsätzlich unbescheiden? Für mich bedeutet Bescheidenheit vielmehr, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, die Freude meist im Stillen auszuleben, eher zurückhaltend auf Lob zu reagieren - und schliesst Stolz auf sich selbst nicht aus.

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vierfarbeimer  18.06.2013, 12:53
@verreisterNutzer

Äussert sich der Stolz positiv stellt sich ein Gefühl des Glücks, der Zufriedenheit und der Erhabenheit ein („Das ist mir wirklich gut gelungen“).

Äussert sich der Stolz negativ, ist er als Dünkel, Selbstherrlichkeit oder Selbstbewunderung wahrnehmbar („Seht her, ist das nicht grossartig (was ich geschaffen habe)?“).

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Evtl. geht es nicht um Bescheidenheit sondern um Schüchternheit - wenn jemand nicht im Mittelpunkt stehen möchte, nicht für einen "Angeber" gehalten werden will, meist sehr freundlich, hilfsbereit ist und seine eigenen Leistungen herunterspielt (aber dennoch hofft, dass andere diese Leistungen sehen bzw. anerkennen) klingt das nach einer leicht ausgeprägten Sozialphobie. Kernsymptom ist die Vermeidung - und die Betroffenen merken sehr häufig nicht, was sie alles vermeiden...

Es kommt darauf an, ob diejenige Bescheidenheit für die Non+Ultra-Charaktereigenschaft hält und sich selbst für die Queen dadurch hält, dann liegt Selbstbetrug vor.

Wenn sie Bescheidenheit für nicht sonderlich beachtenswert hält, ist es auch keine besonders positive Selbstdarstellung, sich als bescheiden zu bezeichnen. Dann ist sie trotzdem bescheiden.


Wenn sie Bescheidenheit für erwähnenswert hält, wenn man sie nach positiven Charakterzügen fragt, kann man so argumentieren, dass sie normalerweise bescheiden ist, nur nicht in Bezug auf genau diese Charaktereigenschaft.
Es ist sowieso immer ein Unterschied, ob man von sich aus auf die Leute zugeht und das ihnen auf die Nase bindet oder ob man gefragt wird.

Ja, wenn jemand von sich sagt: "Ich bin sehr bescheiden" klingt das arrogant und besserwisserisch. So ein Mensch fühlt sich anderen gegenüber moralisch überlegen, ähnlich wie ein Konsumverweigerer, Veganer oder Asket.


Penelope012  04.07.2013, 20:53

Ah ja, du hältst Veganer für arrogant, besserwisserisch und meinst sie würden sich anderen Menschen moralisch überlegen fühlen? Ich würde dir dringend raten deine Vorurteile zu überdenken, nicht jeder wählt einen alternativen Lebensstil aus diesen Gründen.

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