Kann Russland jemals ein friedliches Land werden?

https://www.nzz.ch/meinung/etwas-archaisch-boeses-russland-und-seine-gewaltkultur-ld.1688815

Der Artikel ist fast zwei Jahre alt, beschreibt aber sehr eindrücklich, was Russland jeden Tag der Ukraine mit dem Vernichtungskrieg antut.

Hier einige Auszüge:

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(...) Was seit drei Monaten in der Ukraine passiert, ist eine Orgie epischer, entgrenzter Gewalt. Mit Massenerschiessungen und bestialischer Folter, der Ermordung von Zivilisten, einfach so, aus Langeweile, zum Spass, mit Vergewaltigungen und Morden an Eltern vor den Augen ihrer Kinder und umgekehrt, mit Gewalt an Frauen und Mädchen im Alter von acht bis achtzig Jahren.

Diese Berichte zu lesen, ist unerträglich, aber notwendig, aus einer Pflicht des Mitgefühls und der Empathie heraus, aber auch im Versuch, zu verstehen, woher dieses archaische Böse kommt, das die russische Armee über das Land gebracht hat, aus welchen irdischen Abgründen, aus welchen Albträumen und Horrorfilmen. (...)

(...) Man muss nicht Fjodor Dostojewski, Juri Mamlejew oder Wladimir Sorokin sein, um die dunkelsten Winkel der russischen Seele zu erkunden. Man braucht sich nur die Chronik der Polizeigewalt anzusehen, die Folter auf den Polizeirevieren und in den Strafkolonien, die Verbrechen der Armee, um zu verstehen, dass die Ereignisse in Butscha, Irpin und in den ganzen anderen von den Russen okkupierten Städten und Dörfern weder Exzess noch Pathologie sind. Sie sind vielmehr ein Teil der Norm, Routinepraktiken der russischen Gewaltapparate. (...)

(...) Dabei beschränkt sich die Gewalt nicht auf staatliche Institutionen, sie herrscht auch in den Familien, in den Beziehungen zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, Jüngeren und Älteren, Vorgesetzten und Untergebenen. Sie dringt aus den abgefangenen Telefongesprächen zwischen russischen Soldaten und ihren Kommandeuren, in denen Vulgaritäten, Drohungen und Demütigungen grassieren. Aus den Telefonaten und Chat-Nachrichten der Soldaten mit ihren Familien, in denen sich rührselige Sentimentalität mit Grausamkeit und Zynismus vermischt, in denen Ehefrauen ihren Männern sagen, was sie in den Häusern der Ukrainer essen und welche Schuhgrösse sie mitnehmen sollen, und andere sie ermahnen: «Beim Vergewaltigen der ukrainischen Weiber nimm ein Kondom.»

Diese Gewalt ist der russischen Gesellschaft in Fleisch und Blut übergegangen, sie ist zum Erkennungscode für eine Gesellschaft geworden, die auf Hierarchie und Unterwerfung gründet, auf dem Wegnehmen und Aufteilen von Ressourcen, in dem die rohe Gewalt über der Moral steht und die Macht über dem Gesetz. (...)

(...) Wenn wir versuchen zu verstehen, was hinter der Bestialität der russischen Besatzer in der Ukraine steckt, sehen wir, dass das Problem nicht einzelne Sadisten und Marodeure sind, sondern das russische System selbst. (...)

(...) Um bei der Militärmetapher zu bleiben: Russland ist genäht wie ein Soldatenmantel. Nicht wie der von Akaki Akakijewitsch, aus dem die ganze russische Literatur hervorgegangen ist, sondern wie die Uniform eines einfachen Soldaten, eines der grundlegenden Archetypen einer ewig kämpfenden Nation. Der Mantel hat eine Aussen- und eine Innenseite. Auf der Aussenseite – rau, grob und durchgescheuert von den Jahrhunderten – ist das Land, das Imperium, die Weite, der Krieg, sind die Panzer und Flugzeuge, die Atombombe, das All, die Kultur, Moskau und Petersburg, Kirchen und Schlösser. Auf der Innenseite, für die Aussenwelt unsichtbar, aber eng am Körper anliegend, sind Sklaverei, Pöbel, Kriminalität, Lüge, Tyrannei und die unvermeidliche Grausamkeit des russischen Lebens.

Aber jetzt ist etwas durcheinandergeraten: Russland hat sich «entblösst», den Soldatenmantel umgekrempelt und seine ganze innere Schäbigkeit in Form der «Invasionsarmee» enthüllt. Es hat der ganzen Welt die sinnlose russische Wut, die finstere Barbarei, seine Verbrechermentalität, Grausamkeit, Gewalt und die Verachtung gegenüber der menschlichen Würde und dem menschlichen Leben präsentiert, sowohl dem der Ukrainer als auch dem der eigenen Soldaten.

All die nationalen Merkmale, mit denen wir gelernt haben zu leben, sind plötzlich sichtbar geworden: Die ungeflickten Löcher, die Schwachstellen, schiefen Nähte, der halb verrottete Stoff des russischen Soldatenmantels sind ans Tageslicht getreten, und das ist nicht mehr eine Katastrophe für die Reputation, sondern für die Zivilisation. Sie zerstört die Macht der Inszenierung, auf der Russland die letzten paar Jahrhunderte gegründet war: Die äussere Form des Landes, die sich in diesem obszönen Krieg offenbart hat, entspricht nun seinem Inhalt – Russland hat sich der Welt so präsentiert, wie es wirklich ist.

Man kann schockiert sein angesichts des abgrundtiefen Bösen, das sich in Butscha und Mariupol aufgetan hat, aber man sollte sich nicht darüber wundern: Ganz Russland ist unser Butscha. (...)

Geschichte, Krieg, Psychologie, Gesellschaft, Russland, Ukraine, Kriegsverbrechen
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