Goethes Leiden des jungen Werthers: Beruht Werthers Liebe zu Lotte in Wahrheit auf Gegenseitigkeit?

4 Antworten

Aber selbstverständlich! Goethe zeigt das auch überdeutlich, indem er Lottes Verlobten als Langweiler darstellt.

Leseerlebnisse sind subjektiv. "In Wahrheit" passt also nicht.

Es gibt den schönen Fall, dass jemand über Goethes Äußerung, sein größte Liebe sei Lilli Schönemann gesagt hat "Hier irrt Goethe." - Das ist auf jeden Fall falsch. Aber Goethe wollte vielleicht nicht sagen, was er eigentlich meinte, oder er wollte sich etwas nicht eingestehen. 

Bei Interpretationen kommt es immer auf die Begründung für die Interpretation an. Die muss überzeugend sein.

Meine Interpretation: Werther hat übersteigert geliebt. Das will Goethe kritisieren, um sich von seiner eigenen Liebesenttäuschung zu befreien. 

Lotte ist eine literarische Figur. Was sie fühlt, darfst du entscheiden; aber du musst es gut begründen.


Fontanefan  25.09.2015, 12:01

Das Vorbild für die literarische Figur Lotte hat sich gegen Goethe und für ihren Verlobten entschieden. Die literarische Figur entscheidet sich auch für den Verlobten.

Natürlich kann es sein, dass rein rationale Gründe dafür ausschlaggebend sind, aber es spricht doch manches dafür, dass wie bei dem historischen Goethe auch Werther die Liebe Lottes zu sich - der Wunsch ist da oft Vater des Gedankens - als größer eingeschätzt hat, als sie es war. 

Deshalb braucht man nicht anzunehmen, dass Goethes/Werthers Ausstrahlung auf Lotte keinen Einfluss gehabt hätte. Dass die Figur Lotte einiges für Werther übrig hatte, dafür kann man viele Stellen anführen, z.B. die gefühlsmäßige Übereinstimmung beim Wort "Klopstock".

Finde weitere und überzeuge deinen Lehrer. Achte aber auch darauf, was er für sich ins Feld führen kann und ob du es widerlegen kannst.

Trotzdem: Interpretation ist subjektiv. Mehr dazu hier: http://fontanefan.blogspot.de/2015/09/erlesnis.html

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Das sind literarische Figuren, keine wirklichen Menschen. Eine objektive "Wahrheit" zu ihrem Gefühlsleben git es nicht.

Man kann Lotte nicht als Philisterin bezeichnen. Philister bzw. Spießer sind engherzige, niedrig denkende Menschen mit stark eingeschränktem Horizont. So ein Typ war Lotte auf keinen Fall. - Ihr Verhältnis zu Werther war ambivalent. Man kann durchaus sagen, dass sie Werther liebte (s. Reclam S. 128:“...wie schwer es ihr fallen würde, sich von ihm zu trennen.“ oder S.129: „Sie fand keine - von ihren Freundinnen -, der sie ihn gegönnt hätte.“ Und: „...fühlte sie erst tief, ohne sich es deutlich zu machen, dass ihr heimliches Verlangen sei, ihn für sich zu behalten.“ Andererseits sagte sie sich, dass sie ihn nicht behalten könne, behalten dürfe. (S. 129). Oder (S. 144): „Und immer kehrten ihre Gedanken wieder zu Werthern, der für sie verloren war, den sie nicht lassen konnte...“ Und nachdem Werther ihr aus dem Ossian vorgelesen hatte, kam es zu einer stürmischen Liebesszene zwischen den beiden; doch sogleich wies sie ihn von sich „und mit dem vollsten Blick der Liebe auf den Elenden eilte sie ins Nebenzimmer und schloss hinter sich zu.“ (S. 139) - Denn Lotte liebte von Herzen auch Albert (s. S. 145:“...des Mannes, den sie liebte und ehrte.“). In diesem Zustand der Gefühlsverwirrung fand sie sich dennoch bereit, dem von Werther gesandten Knaben die Pistolen Alberts auszuhändigen, obwohl sie insgeheim fühlte, was Werther damit eventuell vorhatte. Sie war ja fest entschlossen, „alles zu tun, um Werthern zu entfernen.“ (S.123), allerdings – das dürfte sicher sein – hatte Lotte nicht bewusst mit dem Gedanken gespielt, Werther würde sich mit den Pistolen vielleicht etwas antun. - Fazit: Lotte musste sich als verheiratete Frau entscheiden. Werther konnte ihr bei weitem nicht das bieten, was Albert ihr ermöglichte: ein bürgerliches Glück. Werther war im bürgerlichen Leben gescheitert. Er hätte niemals seine und Lottes Kinder ernähren können. So war Lottes Entschluss, sich innerlich von Werther zu trennen, auch auf dem Hintergrund der damaligen streng bürgerlichen Sitten, nur folgerichtig (ganz zu schweigen von dem Versprechen, dass sie einst ihrer Mutter auf deren Sterbebett gegeben hatte).